Ich ging ab Makarora los (Karte). Das ist ein Mini-Kaff zwischen Haast und Wanaka. Jedenfalls besteht Makarora nur aus dem DoC-Visitors Center und einem Campingplatz.
Zunächst mußte ich den Makarora River überqueren, oder vielmehr "durchqueren". Und weil ich noch den ganzen Tagesabschnitt vor mir hatte, zog ich es vor barfuß durch die eisigen Fluten zu stapfen. Die Strömung hatte einige Power, jedenfalls mehr als erwartet. Und tiefer war die Stelle auch, als ich zunächst angenommen hatte. Jedenfalls ging mir das Wasser fast bis zum Hintern. Als ich endlich drüben war mußte ich feststellen, daß ich sage und schreibe eine volle Stunde für diese dämliche Überquerung gebraucht hatte.


Nach der Überquerung des Makarora Rivers auf dem Weg ins Wilkin River Valley

Die ersten zwei Stunden führten mich dann tiefer und tiefer in das Wilkin River Valley hinein. Irgendwann begann der Track und führte zum Teil halsbrecherisch rechts des mäandernden Wilkin Rivers nach Westen. Das Tal wand sich immer weiter in die alpinen Gebiete des Mt. Aspiring National Parks hinein.

Das Wilkin River Valley

Und je weiter ich meinen Weg über den zum Teil chaotisch auf und ab kletternden Track bahnte, desto unwirklicher kam es mir vor, daß immer wieder Kuhscheisse auf den Pfad herumlag. Und den ganzen Weg bis hinauf zu Kerin Forks Hut, kam ich auch immer wieder über Grass Flats auf denen sich träge Rindviecher in der Sonne lümmelten. Am Ende konnte ich es kaum noch glauben: wie um alles in der Welt kriegen die Farmer ihre Tiere hier hinauf, oder besser, wie bekommen sie die Tiere aus diesen abgelegenen Teilen des Tales wieder heraus? Und nicht selten wenn ich wieder total verdutzt vor einer weiteren Horde von Rindern stand, kuckten die Tiere ebenso perplex zurück: was um alles in der Welt mach denn einer dieser Zweibeiner so tief in unserem Tal?


Kuckten mich genauso perplex an, wie ich sie:
Rinder im Wilkin River Valley fernab der Zivilisation

Nach sechs Stunden erreichte ich die Kerin Forks Hut. Ich mußte den Wilkin River durchqueren. Der hatte so einen Dampf drauf, daß ich diesmal meine Schuhe anbehielt. Es hätte mich fast geschmissen - mitsamt meinem Fotozeugs vor dem Bauch. Mit Adrenalinspiegel auf 100% rettete ich mich irgendwie ohne Zwangsbad auf die andere Flußseite.
In der Hütte bekam ich später noch Besuch von Stefan, einem Deutschen Survival-Menschen, der eine knallharte Tour vor hatte: Er startete den Track, den ich noch vor mir hatte in der anderen Richtung, wollte von dieser Hütte über den Rabbit Pass bis zur Mt. Aspiring Hut, weiter über den Cascade Saddle auf den Reet-Dart Track, über den Weiß-Nicht-Mehr-Pass auf den Rockburn Track, über den Weiss-ich-auch-nicht-mehr-Saddle auf den Routebourne um dann zehn Tage später an der Divide herauszukommen, dem Parkplatz an der Straße von Te Anau zum Milford Sound. Insgesamt ein Trip von knapp 190 Km. In zehn Tagen, wenn's geht.
Wir palaverten bis mitten in der Nacht. Dann irgendwann gingen bei mir die Lichter aus. Am nächsten Tag ließ ich mir Zeit. Der Abschnitt bis zur Siberia Hut war nur drei bis vier Stunden. Stefan meinte das sei ein Spaziergang. Na ja, zuerst musste ich wieder über den Fluß und davor graute mir. Doch dieser war ganz zahm: denn die Sonne hatte auf den Berggipfeln noch nicht die Intensität erreicht, die das Schmelzwasser zu Tale jagt.
Der Track führte mich im Zick-Zack bergauf dem Siberia Valley entgegen. Der Wald war ein bilderbuchhafter NZ Beech-Forest, mit Moos und Farnen und allem was dazu gehört. Die Sonne blinzelte immer wieder auf den Track herunter und die Tomtits schauten mir neugierig hinterher. Fantails kapriolten in der Sonne und unzählige Riflemen fiepten aus dem lichten Laubwerk. Nach dem Zick-Zack wurde es für zwei Stunden wieder haarig und anstrengend, doch ich war frisch und kam gut voran.


Aufstieg zum Siberia Valley

Auf halber Strecke kamen mir drei Personen entgegen: zwei Männer und eine Frau - alle so um die 30. Der eine Typ trug Longjohns und führte die kleine Gruppe an. Die Frau hatte - unglaublich aber war - eine schwarze Steghose an und trug schwarze, absolut edel anmutende Lederhandschuhe. Sie machte einen sehr gestreßten Eindruck. Der dritte Typ hatte ein T-Shirt mit einem "University of So-und-so/USA" Aufdruck und einer schwarzen Radlerhose an. Als mich die drei erreichten, sah mich die gestreßte Frau an und fragte amerikanisch gepreßt: "Tell me, how's the track ahead?"
"Rough in places.", antwortete ich.
"Steep?"
"Yup, and slippery too.", gab ich kund.
Der Typ in Radlerhosen kraxelte unterdessen heran und legte mit großen Augen den Zeigefinger vor die Lippen. Ach so - Schönreden war angesagt.
"REALLY! Ou no! I knew it! Gosh no!", jammerte die Lady mit genervtem Unterton.
"No. It`s all right. I was just kidding", versuchte ich meine Offenheit wieder glattzulügen und machte mich mit einem knappen "See ya" schnell wieder auf den Weg. In der Siberia Hut erfuhr ich von zwei Engländerinnen, daß es es sich bei dem Trupp um zwei New Yorker Yuppies handelte, die sich einen Guide gemietet hatten (der Typ in den Longjohns).


"Schnell weg, sonst geht die
mir noch an die Gurgel..."

Nach drei Stunden erreichte ich die Siberia Flats: eine weitläufige Grasebene, die von einer dramatischsten alpinen Kulisse eingefaßt ist. Mitten drin säuselt der Siberia River in Richtung Wilkin River Valley hinunter. Und - keine Kühe. Dieses Tal ist dann doch zu gut abgeschirmt.


Die Siberia Flats

Von der Siberia Hut hatte man einen fantastischen Ausblick auf das Upper Siberia Valley, wohin mich der Weg am dritten Tag führen würde. In der Hütte traf ich die beiden erwähnten Engländerinnen (hatten sich - Frevel! - mit einer Cesna einfliegen lassen). Und später gesellte sich noch ein älterer Australier zu uns, der über den Gillespie Pass gekommen war.


Lauschiger Sonnennachmittag an der Siberia Hut

Am nächsten Tag war ich vor Sonnenaufgang auf den Beinen. Es war schweinekalt in der Hütte und bewölkt draußen. Die Berggipfel steckten in einer massiven Wolkendecke, die mir nicht gefiel, denn dort mußte ich hinauf. Ich dampfte mir mein Müsli rein und brach dann mit dem ersten Licht auf: vor mir lag ein langer, anstrengender Tag über den Gillespie Pass hinüber ins Young Valley. Zunächst lief ich eine Stunde durch das frostige Gras der Siberia Flats, bevor der Weg an einem Schild mit der Aufschrift "Gillespie Pass" in den Beechforest eintauchte.
Es ging jetzt drei Stunden lang bergauf: erst durch den Wald, über einige ziemlich steile Erdrutsche, die unter jedem Schritt nachgaben, dann später dünnte der Wald aus und ich kam über die Baumgrenze. Und ich näherte mich den Wolken. Kaum war ich über der Baumgrenze vernahm ich sie zum ersten Mal: die Keas. Aus den Wolken schallte ihr "Keeeeeaaaaa" zu mir hinab. Einige Male sah ich sie vor mir über den Track sausen. Doch ich war für die Papageien wohl nicht interessant genug - die Vögel beginnen gerade mit ihrer Balz.


Aufstieg zum Gillespie Pass

Der Weg führte weiter den Wolken entgegen und ich merkte langsam, daß meine Kraft nachließ. Die ganze Diplomsitzerei hängt mir doch arg in den Knochen. Als ich in den Nebel eitauchte begann dann mein rechtes Knie zu jaulen und als ich dann ersten Schnee erreichte, machte ich mir ernsthaft Sorgen, denn meine Kreuzbänder in eben diesem Knie schienen mit der Belastung nicht klarzukommen. Im Nebel war es schwer den Weg auszumachen. Die orangen Stangen, die den steil ansteigenden Track markierten, waren schwer zu sehen, denn die Sicht war oft weniger als 30 Meter. Der dichter werdende Schnee machte die Sache nicht leichter, jedoch halfen mir die wenigen Spuren von Stefan und dem Australier weiter. Ich fühlt mich matt und kaputt, als ich die Sonne hinter dem Dunst sehen konnte. Würde mich der Anstieg auf den Pass über die Wolken bringen? Wann war ich überhaupt endlich oben, verdammt nochmal? Nicht das mir gleich irgendwas im Bein reißt und ich ein Riesenproblem habe...
Die Rufe der Keas munterten mich immer wieder auf und irgendwann gab es keinen Hang mehr vor mir - ich war auf dem Gillespie Pass auf 1690 Meter. Und Die Wolken reichten wahrscheinlich bis 1700 Meter, denn ich sah die Sonne zwar wie hinter Milchglas, doch nach wie vor hatte ich eine Sicht von maximal 50 Metern. Von wegen "Tolle Aussicht vom Pass". Ich war ziemlich im Eimer. Ich hockte mich auf einen Stein, der aus dem zum Teil knietiefen Schnee ragte; mein Knie brauchte eine Pause. Ich kramte ein Snickers hervor, daß gefroren war. Mir war gar nicht aufgefallen, daß es so kalt war!


Pause auf dem nebeligen Gillespie Pass

Der Weg folgte nun 20 Minuten dem Passgrat, bevor es bergab ging. Und wie es bergab ging! Ich bin selten in meinem Leben einen so steilen Hang hinabgekraxelt. Die Steigung schätze ich auf mindestens 80°. Und dementsprechend ging der Abstieg auf mein armes Knie. Der Track war zum Teil weggebrochen und es artete in Freestyle-Klettern aus, ohne Seil, dafür mit schneidendem Schnee-Gras als Halt. Ich kraxelte von einer Trackmarkierung zur nächsten; nicht selten war die nächste Stange nur vier oder fünf Meter von mir entfernt - in der Waagerechten -, dafür aber 50 Meter in der Senkrechten, also fast direkt unter meinen Füßen! Ich übertreibe hier nicht. Ich glaube, wenn der Hang nicht mir Gras und Bergsträuchern bewachsen gewesen wäre, hätte ich doch arge Bammel bekommen. So konnte ich mich darauf konzentrieren mein rechtes Knie so wenig wie möglich zu belasten.
Auch hier im Young Valley tobten Gruppen von Keas herum. Der Nebel hatte sich bald nicht weit unterhalb des Passes wieder in Wolken über mir verwandelt, so daß ich die dramatische Aussicht über das Upper Young Valley genießen konnte. Schroffe Granitwände ragten in die Wolken auf, riesige kantige Brocken lagen am Grund des schmalen Tales. Überall gingen Rinnsale und Bäche die Steilen Wände hinunter - außer den Keas war nur das Rauschen dieser Bäche zu verhehmen.

Winzig, am Rande eines Steilhanges ins Lower Young Valley - die Young Hut

Nach fast 2 Stunden erreichte ich ziemlich fertig den Grund des Tales. Noch zwanzig Minuten brachte ich humpelnd hinter mich, bevor ich die Young Hut vor mir sah. Am Rand eines Steilhang war die Hütte mittig in das Tal gesetzt worden. Von der Hütte hatte man in jede Richtung fast unwirkliche Panorama-Ausblicke auf das schroffe, granitene Upper Young Valley und das waldige schmale Lower Young Valley, durch das mich der letzte Tag führen würde. Vor allen Dingen der Blick durch das Fenster am Eßtisch war die ganzen Strapazen wert. Ich war ziemlich alle und packte mich, nachdem ich den Ofen in Gang gebracht hatte, auf die Bank und blickte bis es dunkel wurde aus dem Eßtischfenster, während die Keas weit über der Hütte krakelten.


Der Blick aus dem Eßtischfenster der Young Hut

Nachts um halb fünf wurde ich wach. Ich griff nach meiner Kopflampe und sah meinen Atem in dichten Wolken durch den Lichtstrahl tanzen - es war eisigkalt in der Hütte. Zitternd kletterte ich in meine Hüttenklamotten und brachte den Ofen in Gang. Das Thermometer vor der Hütte zeigte -5°Celsius. In der Hütte war es nicht wärmer. Die Kälte kam nicht von ungefähr - es hatte aufgeklart und über der Hütte funkelten Millionen von Sternen. Natürlich schrien auch irgendwo Keas...


Der gleiche Blick am klaren Morgen; Mt. Awful am linken Bildrand.

Bei Sonnenaufgang ging ich an den letzten Teil des Tracks. Mein Knie war wieder einigermaßen. Nur ein leichter Druck war zu verspüren. Ich kletterte durch dichten Beech Forest zum Grund der Lower Young Valleys, wo der Track dann dem Young River folgte, immer durch den Wald hindurch. Nach und nach traf ich auf alte Bekannte, wie Tomtits und Riflemen. Einmal hörte ich sogar das Kanariengesinge des Mohua oder Yellowhead. Als auch wieder Fantails zu hören waren, hatte sich das Young Valley bereits erweitert und ich war nicht mehr weit vom Makarora River entfernt. Nach insgesamt 6 Stunden war ich aus dem Tal heraus, kreuzte den flachen Makarora River zum zweiten Mal und fand mich bald auf dem Haast Highway. Ich hatte noch sechs Kilometer bis zu meinem Auto vor mir. Ich legte den Rucksack ab und marschierte los. Erst die letzten drei Kilometer hatte mein ausgestreckter Daumen erfolg und ich durfte bei einer Framersfrau hinten auf den Pickup steigen. Die Hunde waren sichlicht verwirrt einen Zweibeiner zwischen sich zu finden. Um drei Uhr Nachmittags war ich wieder an der Makarora Station, bei meinem Toyota. Mein erster Track 2000 war gegessen - mein Knie hat`s gefreut.